Advertisement
OBJEKTVERLUST / MENSCH OHNE WELTLars Henrik Gass und Alexandra Schauer im Gespräch über den Verfall der Öffentlichkeit und das Ende des Kinos
Die Gegenwart der Spätmoderne kennzeichnet ein umfassender Weltverlust: Hatte die Moderne die »Welt« als den Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung und Gestaltung hervorgebracht, kommt sie heute abhanden in dem Maße, wie sie sich gegenüber eingreifender Praxis als unveränderbar erweist.
Scheinbar am Ende der Geschichte angelangt, schwindet die Möglichkeit planender Zukunftsgestaltung unter dem Eindruck eines »rasenden Stillstands« (Paul Virilio), der ständig neue Anpassungsleistungen ans Immergleiche verlangt.
Unter diesen Bedingungen erodiert der Raum des Politischen: »Statt sich in dieser Sphäre zu engagieren, zieht sich der Mensch in das innere Universum seines Erlebens zurück«, so die Sozialphilosophin Alexandra Schauer. Dieser Trend schlägt auch auf die Institutionen der Öffentlichkeit zurück: Ehemals universale Foren kollektiver Reflexion zersplittern zu Mikrokosmen narzisstischer Selbstbespiegelung.
Dieser Prozess ergreift auch das Kino: Als »soziale Praxis« kommt es an sein Ende, dem der Filmtheoretiker Lars Henrik Gass nicht institutionengeschichtlich, sondern durch eine Analyse des vom Feuilleton gefeierten Gegenwartskinos auf die Spur kommt. Konnte Siegfried Kracauer den Film noch als »Errettung der äußeren Wirklichkeit« mit den Mitteln des verfremdenden Apparats verstehen, sei dem Gegenwartskino sein Objekt, das Außen, ebenso verlustig gegangen wie seine eigene Geschichte.
In Filmen etwa von Wes Anderson, Paolo Sorrentino oder Quentin Tarantino erkennt Gass eine sterile Ästhetik, die sich von der Realität abkehrt und in Selbstzitaten erschöpft: »Mittelstandskino macht keine Erfahrungen mehr, die dazu zwingen, die Welt anders zu betrachten; es spiegelt der Gesellschaft Selbstbilder, nicht das in ihr und durch sie Verdrängte.«
Für den spätmodernen Mensch »ist alles Äußere zum Spiegel seines Selbst geworden« (Schauer) und »Film wurde die Propaganda einer Welt ohne Außen« (Gass).
----------
Alexandra Schauer (*1984) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Zuvor war sie Gastprofessorin für kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Für ihre Studie »Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung« (Suhrkamp 2023) erhielt sie den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie den Wilhelm-Liebknecht-Preis der Universitätsstadt Gießen.
Lars Henrik Gass (*1965) war langjähriger Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Seit 2025 ist er Gründungsdirektor des Stuttgarter Hauses für Film und Medien. Als Filmtheoretiker veröffentlichte er u.a. die Werke »Film und Kunst nach dem Kino« (Philo Fine Arts 2012) und »Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos« (Spector Books 2019). Jüngst erschien sein Essay »Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft« (XS-Verlag 2025).
----------
13. Oktober 2025
19:00 Uhr
DENKBAR
Spohrstraße 46a
60318 Frankfurt/M
https://denkbar-ffm.de/
https://instagram.com/denkbarffm
Advertisement
Event Venue & Nearby Stays
Denkbar, Spohrstraße 46, 60318 Frankfurt am Main, Deutschland, Frankfurt, Germany